Anna Elisabeth Keim
Lebenslauf
Geb. 1988
2007 Abitur am Norbertusgymnasium Magdeburg
2007 – 2008 Freiwilliges Jahr in der Denkmalpflege in Quedlinburg
2008 – 2012 Bachelor in Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin
Thema der BA-Arbeit: „Positive oder negative Eugenik. Zur wissenschaftsinternen Kritik vor 1933“
WS 2010 Erasmusaufenthalt am University College Dublin
2014 – 2017 Master in Geschichte und Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Thema der MA-Arbeit: „Die Weltstaatsidee in der frühen Nachkriegszeit. Eine exemplarische Untersuchung der Weltstaat-Liga (1946–1950) und ihres politischen Denkens im Kontext der Friedensinitiativen nach dem Zweiten Weltkrieg“
Seit 10/2018 Promotionsstipendiatin an der Internationalen Graduiertenschule „Verbindlichkeit von Normen der Vergesellschaftung“ an der MLU Halle-Wittenberg
Kurzexposé des Forschungsvorhabens
Arbeitstitel:
„Die Evolution des Systems Arbeit“. Eine Debattengeschichte der Leiharbeit vom Ende der Weimarer Republik bis zu den „Hartz-Reformen“
Das Thema „Arbeit“ erlebt nun bereits seit mehr als zehn Jahren wieder verstärkte Aufmerksamkeit in der zeithistorischen Forschung und wird zumeist im Kontext der Forschungsfelder „Nach dem Boom“ und „Wertewandel“ verhandelt. Hierbei wird, ausgehend von der Strukturbruch-These von Lutz Raphael und Anselm Doering-Manteuffel (2008), untersucht, wie und in welchem Ausmaß sich verschiedenste gesellschaftliche Bereiche seit den krisenhaften 1970er Jahren wandelten. Hinsichtlich der „Arbeit“ fand in der zeithistorischen Forschung auch eine starke Auseinandersetzung mit den Sozialwissenschaften statt, die bereits früh eine Aufweichung des sogenannten „Normalarbeitsverhältnisses“ und eine Ausweitung der sogenannten „atypischen Beschäftigungsformen“, eine damit einhergehende zunehmend „flexiblere“ Arbeitswelt sowie einen Wandel von Arbeitswerten und -normen diagnostizierten. Erstaunlich ist hierbei, dass es bisher kaum dezidiert zeithistorische Untersuchungen gibt (mit Ausnahme der bereits etwas älteren Studie Christine von Oertzens zur Teilzeitarbeit, deren Untersuchungszeitraum jedoch 1969 endet), die sich explizit der Geschichte „atypischer“ Beschäftigungsverhältnisse zuwenden. Gerade hierdurch kann jedoch, so das Ziel des Projekts, der allgemein beobachtete Wandel besser verstanden und spezifiziert, zu starre Narrative aber auch hinterfragt werden.
In meinem Dissertationsprojekt untersuche ich deshalb am Beispiel der Leiharbeit in einer langen diachronen Perspektive Wandel und Kontinuitäten dieser Arbeitsform. Um über das Strukturbruch-Narrativ hinauszukommen bzw. dieses kritisch zu hinterfragen, sollen gerade auch die Zeiträume vor und nach den 1970er Jahren besonders intensiv in den Blick genommen werden. Meine Untersuchung berücksichtigt deshalb ebenfalls die Debatten über Leiharbeit gegen Ende der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus sowie in der frühen Bundesrepublik. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dann auf den 1960er Jahren, da hier mit wegweisenden Urteilen und der Herausbildung einer Zeitarbeitsbranche wichtige Knotenpunkte der Debatte liegen. Für ein angemessenes Verständnis des Wandels seit den 1970er Jahren rücken in der zeithistorischen Forschung zunehmend auch die 1990er und 2000er Jahre in den Fokus der HistorikerInnen. Im Kontext der „Nach dem Boom“-Forschung wurde gerade die zweite Hälfte der 1990er Jahre als weiterer entscheidender Umbruchszeitraum ausgemacht (Doering-Manteuffel / Raphael 2016). Auch im Kontext der Leiharbeit setzten ab Mitte der 1990er Jahre, aufbauend auf Wandlungsprozessen der 1980er Jahre, Liberalisierungstendenzen ein, die im Zuge der sogenannten „Hartz-Reformen“ ihren vorläufigen Endpunkt erreichten.
Mein Dissertationsprojekt bewegt sich auf der Ebene der Debatten, d.h. der gesellschaftlichen Verhandlung des Arbeitsverhältnisses Leiharbeit. Ich verwende hierbei jedoch einen weiten Debattenbegriff, der auch immer die Ebene der Praxis sowie die gegenseitige Beeinflussung von Praxis und Aushandlung berücksichtigt. Die DebattenteilnehmerInnen verfolgen mit ihren öffentlichen und nicht-öffentlichen Beiträgen, zumeist in Textform, bestimmte Intentionen und Interessen, die es herauszuarbeiten gilt. Als HauptakteurInnen einer Geschichte der Leiharbeit sind zu nennen: das Bundesarbeitsministerium (im Einzelfall Landesarbeitsministerien), die Bundesanstalt für Arbeit (im Einzelfall Landesarbeitsämter), die Parteien, die Arbeitgeberverbände der Zeitarbeitsbranche (UZA, BZA, iGZ) sowie einzelne Zeitarbeitsunternehmen wie z. B. Adia Interim, die Gewerkschaften (DAG, DGB, IG-Metall), die Bundes- und Landesgerichtsbarkeit, die ArbeitsrechtlerInnen, die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die Medien sowie supranationale Organisationen (EU, ILO, Ciett/WEC). Es gilt demnach zu untersuchen, welche AkteurInnen neue Konzepte einbringen bzw. ältere verteidigen, wer bestimmte Entwicklungen vorantreibt bzw. bremst. Zudem geht es darum, Entscheidungsprozesse zu rekonstruieren und die hierfür ausschlaggebenden Argumentationslinien zu identifizieren.
Die Auseinandersetzung der AkteurInnen über die Arbeitsform Leiharbeit soll, nach der Darstellung der „Vorgeschichte“ (Weimar bis 1950er Jahre), in vier thematischen Kapiteln erfolgen, die jeweils bestimmte Ebenen der Auseinandersetzung widerspiegeln. Die erste Ebene der Auseinandersetzung widmet sich den verwendeten Begriffen. Sie beschreibt den Aufstieg des Flexibilisierungsvokabulars sowie die Erfindung der positiv besetzten „Zeitarbeit“ als Gegenmodell zur negativ konnotierten „Leiharbeit“ ebenso wie die Erfindung eines „zweiten Arbeitsmarktes“. Die zweite Ebene beschäftigt sich mit der Frage der Arbeitsorganisation. Hierbei geht es darum zu zeigen, wie die Leiharbeit von einem Hilfsmittel für Notfälle zu einem Instrument der vorausschauenden Personalplanung wurde, das auf die Reduzierung von Stammbelegschaften zielte. Die Etablierung der „Zeitarbeit“ am Arbeitsmarkt erfolgte zunächst über das Image weiblicher Zuverdienstarbeit, eine Strategie, durch die einerseits eine Legitimierung der Zeitarbeitsfirmen in Zeiten von Vollbeschäftigung erfolgen konnte, indem angeblich neue „Arbeitskraftreserven“ mobilisiert wurden, und die andererseits dazu diente, sich nicht in Konflikt mit den Gewerkschaften, die den männlichen Industriearbeiter vertraten, zu begeben. Im Zuge ansteigender Arbeitslosenzahlen erfolgte dann eine Legitimierung der Zeitarbeitsbranche, indem sie als Krisenlöser und „Auffangbecken“ für Arbeitslose auftrat und wahrgenommen wurde. Die Vertreter der Branche arbeiteten jedoch an einer noch weiterreichenden „Vision“ von Arbeit: der vollständigen „Evolution des Systems Arbeit“ und einem „Volk von Unternehmern“. Die dritte Ebene wendet sich der Sozialpolitik zu. Beschrieben werden hier die Debatten, die durch die Ungleichbehandlung in den Belegschaften und durch den Einsatz „illegaler“ ArbeitnehmerInnen ausgelöst wurden, sowie die gewerkschaftlichen Gegenstrategien. Die seit den 1950er Jahren in unterschiedlichem Ausmaß immer wieder auftretenden Skandale hinsichtlich missbräuchlicher Praktiken in der Leiharbeit, verweisen auf den großen Einfluss von Medialität und Emotionalität auf die jeweiligen Debatten als auch auf starke Kontinuitäten, die hier stärker als die Wandlungsprozesse in den Vordergrund treten. Der staatlichen Verwaltungspraxis und Regulierungstätigkeit wendet sich schließlich die vierte Ebenezu. Sie untersucht zunächst die allmähliche Aufweichung des Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt für Arbeit, worunter als „Sonderweg“ das Urteil zur Aufhebung des Verbots der Leiharbeit durch das Bundesverfassungsgericht 1967 fällt, das aus einem langjährigen Rechtsstreit zwischen der Firma Adia Interim und der Bundesanstalt resultierte. Es werden die Debatten um die Ausformulierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) bis 1972 und dessen Folgen beschrieben sowie die allmählichen Liberalisierungsprozesse, die Mitte der 1980er Jahre und dann verstärkt in den 1990er und 2000er Jahren einsetzten. Weiterhin wird die Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Bundesanstalt für Arbeit und den Verleihunternehmen beschrieben, das sich von Konflikt zu Kooperation wandelte, sowie die in Folge der anfänglichen Konkurrenzsituation entwickelten Gegenstrategien der Bundesanstalt beschrieben.