Forschungsprogramm
Inhaltliche Ausrichtung, Methodologie, und Ziele
Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu Verbindlichkeitsdiskursen ist ein spezifischer Moment in der Debatte um die Grundlegung einer allgemeinen normativen Theorie menschlichen Handelns, so wie er prominent in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Philosophie, Theologie und Naturrecht – gerade auch ausgehend von der Universität Halle – zum Ausdruck kommt: Die Frage nach dem Grund unserer allgemeinen Verbindlichkeiten, sei es in Gestalt von Pflichten gegenüber uns selbst, gegenüber anderen oder gegenüber Gott. Welches sind die Motive und Gründe, die unser Denken und Handeln leiten sollen? Was bindet unseren freien Willen? Neben dem natürlichen Gesetz, das durch das Studium der Natur des Menschen und der Dinge erkannt wird, tritt der Wille Gottes (göttliches Gesetz) und der Wille innerweltlicher Autoritäten, insbesondere des Souveräns (positive Gesetze). Das natürliche Gesetz kann dabei zum einen als Ausdruck des (kontingenten) Willen Gottes, es kann aber auch als Ausdruck einer in der Vernunft selbst begründeten Notwendigkeit verstanden werden, dem alles Sein – auch der Wille Gottes – unterworfen ist. Die Relation von göttlichem, weltlichem und natürlichem Gesetz, von Gott, dem Souverän und der Vernunft war im 18. Jahrhundert Gegenstand einer fortlaufenden Debatte – aber auch jenseits der Aufklärungszeit wurde und wird das Verhältnis dieser drei normativen Ebenen bzw. Autoritätsquellen fortwährend neu ausgehandelt und bestimmt, ist die Normenkonkurrenz ein prägendes Element sowohl vormoderner als auch moderner Gesellschaften.
Neben die Frage nach den konfligierenden Autoritätsquellen und Normen tritt die Frage nach den kulturellen Voraussetzungen, derer es bedarf, um in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen Verbindlichkeit über bestimmte Normen und Werte erzielen zu können. Dies ist zum einen in einer historischen Dimension zu erforschen; welche kulturellen und religiösen Voraussetzungen wurden im Lauf der Geschichte jeweils als verbindlich erachtet, um Verbindlichkeit herstellen und garantieren zu können? Welche Konflikte gingen mit den hierbei unternommenen Initiativen zur Herstellung dieser Voraussetzungen jeweils einher? In welchen Kommunikationsräumen, mit welchen Medien findet die Verständigung darüber jeweils statt? Zum anderen stellt sich diese Frage auch für unsere heutige Zeit: Bedarf auch die pluralistische, funktional ausdifferenzierte Gesellschaft grundlegender kultureller Prägungen, um die Verbindlichkeit grundlegender Normen und Werte sicherstellen zu können? Oder bestehen Möglichkeiten, auch ohne gemeinsame kulturelle Fundierungen gleichwohl verbindliche Normen durchsetzen zu können? In welchem Verhältnis steht der Verbindlichkeitsdiskurs zu der Rede von Menschenrechten oder von Tugenden?